Sehbehinderten-Tandemverein Bern

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Die Pedale im Gefühl

Bericht von Yolanda Buerdel über den Tandemverein, publiziert am 17.6. in der Sommerbeilage von Bund und BZ

In der Tiefgarage des Blinden- und Behindertenzentrums im Berner Länggassquartier werden Bremsen kontrolliert, Pneus gepumpt und Sättel eingestellt. Die Stimmung ist ausgelassen, man spürt die Vorfreude auf die gemeinsame Velofahrt an diesem Abend – trotz ein paar Wolken am Himmel. Die Mitglieder des Sehbehinderten-Tandemvereins treffen sich hier von April bis Oktober  zweimal pro Woche und fahren in Gruppen von drei bis vier Tandems raus aus der Stadt. Heute sind sechs Zweierteams für die  gemeinsame Ausfahrt mit dabei. Vorne auf dem Tandem sitzt immer die Pilotin oder der Pilot, hinten tritt die sehbehinderte oder blinde Person in die Pedale. Die Routen werden im Turnus von den Piloten festgelegt und führen meist auf Velowegen durch Wälder und Wiesen in die Umgebung von Bern. «Wir fahren zum Beispiel durchs Aaretal nach Thun oder ins Flachland Richtung  Solothurn und je nachdem machen wir auch mal einfach eine kürzere Tour rund um den Wohlensee»,  erzählt Kathrin Engelhart (61), Co-Präsidentin des Vereins. Sie ist selbst sehbehindert und bereits seit  über 20 Jahren im Verein aktiv mit dabei. Das Präsidium teilt sie sich seit vier Jahren mit Niklaus Wahli  (69), der ebenfalls seit der Gründung des Vereins als Pilot mitfährt. «Ein Co-Präsidium in dieser Zusammenstellung macht für unseren Verein Sinn: Kathrin vertritt die Seite der sehbehinderten Mitglieder, ich die der Pilotinnen und Piloten», sagt Niklaus Wahli, während er sich seinen Velohelm über  den Kopf zieht. Den Wald riechen Nach den Vorbereitungen in der Tiefgarage machen sich die Teams draussen zur Abfahrt bereit. An diesem Abend führt die Tour in rasantem Tempo zuerst durch den Bremgartenwald, dann über die Halenbrücke und weiter Richtung Frienisberg. Ob sehbehindert oder nicht: Die Mitglieder des Tandemvereins mögen alle die Bewegung an der frischen Luft. «Durch unseren Verein haben gerade wir Sehbehinderten oder Blinden die Möglichkeit, mit dem Tandem in die  Natur zu fahren – allein könnten wir das ja nicht», erklärt Kathrin Engelhart. Auf dem Tandem fühle sie  sich frei und trotzdem sicher aufgehoben, sodass sie sich ganz auf die sportliche Betätigung konzentrieren könne. Velofahren sei für sie ein Erlebnis, dass man auch riechen und fühlen kann: «Auf dem Sattel spüre ich die Steigungen und Kurven und rieche den Wald oder das Rapsfeld, an dem wir  vorbeifahren», erzählt sie begeistert.Aber auch der soziale Aspekt steht beim Sehbehinderten-Tandemverein im Vordergrund: «Auf so einem  Tandem kann man sich wunderbar unterhalten. Nur wenn es bergauf geht, wird es meist ziemlich schnell still auf den Velos», erzählt Niklaus Wahli und lacht. Oft erzählen die Pilotinnen und Piloten ihren Tandem-Partner/-innen auch, was sie gerade sehen: Ein Reh in der Ferne, eine schöne Abendstimmung  am Himmel oder die Aussicht auf die Alpen in der Ferne. So werden die gemeinsamen  usfahrten nicht selten zu einem besonderen Erlebnis. Das verbindet: «Aus den Begegnungen im Tandemverein entstanden schon oft auch Freundschaften, die weit über das wöchentliche Treffen mit  dem Verein hinausgehen», erzählt Niklaus Wahli. Er selbst habe auch schon Tandem-Ferien mit Kolleginnen oder Kollegen aus dem Verein gemacht und je länger man zusammen auf dem Tandem sitze, desto besser funktioniere man als Team: «Mit der Zeit entwickelt man auf dem Tandem einen  gemeinsamen Rhythmus, dann fägt es am meisten.» In den wöchentlichen Touren werden meistens um die 30 bis 70 Kilometer gefahren. Dabei werde immer darauf geachtet, dass jedes Mitglied in der Gruppe so mitfahren kann, wie es für sie oder ihn am besten passt. «Wir haben auch zwei Elektrotandems, falls jemand mal etwas mehr Unterstützung braucht», erzählt Niklaus Wahli. Gelegentlich nimmt der Verein an einem Radsport-Event teil und mehrmals pro Jahr werden  Tagestouren organisiert. Diese führen die Mitglieder des Tandemvereins an schöne Ausflugsziele, oft auch ausserhalb des Kantons. Besonders in Erinnerung geblieben ist Niklaus Wahli beispielsweise ein  Ausflug nach Freiburg: «Wir haben das geschichtsträchtige Grandfey-Viadukt besucht und sind auf dem Sing- und Klangweg Düdingen zur Magdalena Einsiedelei gefahren.» Klare Ansagen Nach einer  Steigung macht die Gruppe kurz halt um zu Verschnaufen. Dabei erinnern sie sich an die Anfänge des  Vereins vor 20 Jahren zurück: «Ursprünglich waren es vor allem Mit- glieder aus einem Radsportverein,  ie mit den Bewohnerinnen und Bewohnern aus dem Blinden- und Behindertenzentrum Velofahrten unternahmen», erzählt Kathrin Engelhart. Heute zählt der Verein über 70 aktive Mitglieder, die Mehrheit  avon sind Pilotinnen und Piloten, damit interessierte sehbehinderte Personen nicht abgewiesen  werden müssen. Aktuell sind etwa 40 Pilotinnen und Piloten im Verein, es dürften aber gerne auch noch mehr dazu kommen: «Wir sind immer auf der Suche nach passionierten und ausdauernden Velofahrerinnen und -fahrern, die Lust haben, mit uns schöne Tandemtouren zu unternehmen», sagt Niklaus Wahli. Wichtig sei, dass man regelmässig an den Touren teilnehmen könne, um schnell eine Routine im Tandemfahren zu entwickeln. Den neuen Pilotinnen und Piloten wird jeweils in einer fundierten Einführung vermittelt, worauf im Umgang mit sehbehinderten und blinden Menschen auf dem Tandem beonders geachtet werden muss: «Klare Ansagen sind sehr wichtig», erklärt Niklaus Wahli und fügt an:  «Sie müssen wissen, wann man startet und anhält oder wann man in eine scharfe Kurve einbiegt, damit sie darauf vorbereitet sind.» Auf das Wort «Achtung» hingegen sollte man wenn möglich verzichten, denn es versetzt die sehbehinderten Personen sofort in Alarmbereitschaft. Nach der kurzen Pause geht die Fahrt weiter und zum Start der letzten Etappe am heutigen Abend hört man deshalb bei  allen Teams das Kommando: «Eis, zwöi, los!»

 

Der Tandemverein bedankt sich bei Yolanda ganz herzlich für diesen Artikel.

www.yolandabuerdel.ch